Zwischen Politik, Religion und kolonialem Erbe

Das authentische Yoga gibt es nicht

Eine Gruppe Menschen macht Yoga am Strand.
Für die einen ist Yoga einfach ein Sport, für andere eine ganze Lebensphilosophie. Auch mit Blick auf die historischen Quellen bleibt Yoga schwer zu definieren. © imago / Westend61
Claudia Jahnel im Gespräch mit Anne Françoise Weber  · 13.06.2021
Audio herunterladen
Yoga geht auf alte indische Quellen zurück. Aber auch Kolonialismus und westliche Gymnastik haben es mit geformt, erklärt die Theologin Claudia Jahnel. Bis heute werde um das "wahre" Yoga gestritten - auch aus politischen Motiven.
Anne Françoise Weber: Yoga ist für manche gleichbedeutend mit bestimmten Bewegungen und Körperstellungen, also eine reine Technik. Andere stellen den Meditationsaspekt in den Vordergrund. Manche Menschen richten auch ihr ganzes Leben nach einer Art Yoga-Philosophie aus, wieder andere versuchen, Elemente mit ihrem zum Beispiel christlichen Glauben in Einklang zu bringen. Yoga zu definieren, das ist also ziemlich schwierig, aber für die evangelische Theologin Claudia Jahnel ist es vor allem eins: ein Produkt interkultureller Aushandlungen.
Es gibt die Vorstellung, man müsse nach Indien reisen und dort am besten in einen Ashram gehen, dann würde man das authentische Yoga kennenlernen, so wie es ursprünglich gedacht war, auch wenn es selbst da noch eine breite Vielfalt gibt, aber man sei doch dann näher am Wesenskern. Sie sagen aber im Grunde: Es gibt eigentlich gar nicht so ein urindisches authentisches Yoga.
Claudia Jahnel: Ja, eigentlich gibt es das nicht. Wer das authentische Yoga erklärt, der folgt einer guten Marktstrategie. Denn meistens verbindet sich mit dem authentischen Yoga die Vorstellung der Yoga-Praktizierenden: Hier wird mir etwas ganz Besonderes, vielleicht auch etwas ganz besonders heilsames, etwas Altes, altes Wissen verkauft.

Indische Quellen mit und ohne Körperbezug

Weber: Aber es gibt altindische Quellen für Yoga, oder? Es ist keine ganz neue Erscheinung.
Jahnel: Es gibt verschiedene indische Quellen. Das ist das Spannende beim Yoga: Es gibt auf der einen Seite die körperbezogenen indischen Quellen, die Hatha-Yoga-Quellen, die jüngeren Datums sind. Wir sprechen hier von jung, so 16., 17. Jahrhundert. Dann beziehen sich aber viele, die sich auf das Yoga beziehen, auf das Patanjali-Sutra, eine Yoga-Tradition aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Das hat wiederum mit Körperlichkeit und dem, was viele Yoga-Praktizierende suchen, gar nichts zu tun.
Weber: Da wird überhaupt nicht über den Körper geschrieben?
Jahnel: Doch, es wird über den Körper geschrieben, und zwar ein kurzer Satz über die Sitzhaltung: Dein Sitz sei fest und stabil. Das ist es dann auch schon.

Distanzierung von Dehnübungen

Weber: Das würde heute nicht reichen, um einen ganzen Yoga-Kurs zu bestreiten. Es ist auch so, dass es in der neueren Geschichte, also im 19. Jahrhundert, noch mal den Trend gab, Yoga von der Körperlichkeit, die wir hier im Westen als Wesenskern sehen, zu entfernen, oder? Dass man gesagt hat: Yoga ist mehr oder etwas anderes als diese Körperübungen.
Jahnel: Die Auseinandersetzungen über die Körperlichkeit und die Intensität der Körperlichkeit im Yoga ist eine hochgradig politische, die zwischen dem Westen und Indien ausgehandelt worden ist. Der große Hindu-Gelehrte Vivekananda hat 1983 vor dem Weltparlament der Religionen einen Hinduismus und damit auch ein Yoga verkauft oder propagiert, das in erster Linie körperfrei war.
Er schreibt kurze Zeit später ein Buch über das Raja-Yoga, also den Königsweg des Yogas. Darin schreibt er: Wir haben mit diesen Hatha-Yoginis, die ihren Körper in alle möglichen Richtungen verdrehen, überhaupt nichts zu tun, denn das ist nicht die reine Religion.
Porträt von Swami Vivekananda.
Der hinduistische Mönch Swami Vivekananda machte Yoga im 19. Jahrhundert in der westlichen Welt bekannt.© picture alliance / CPA Media Co. Ltd
Vivekananda war letztlich ganz stark von der Idee vieler Indologen im Westen geprägt, dass Religion körperfrei ist. Das war ein Ideal, das hat er im Westen verkaufen wollen und sogar erklärt, Hinduismus und dieses körperlose Raja-Yoga ist letztlich körperfreier und weniger anfällig für körperliche Süchte als sogar das Christentum. Es geht hier um eine Höherstellung des Hinduismus durch ein Raja-Yoga, das körperfrei ist.

Das körperbezogene Yoga wird neu erfunden

Weber: Was interessanterweise beeinflusst ist durch diesen westlichen Blick und diese westliche Ablehnung der Körperlichkeit. Das ist dann eingeflossen in eine Strömung des Yoga, dass im Westen höher definiert wurde, wenn man das möglichst vergeistigt.
Jahnel: Ja. Das Interessante ist, dass es zwei verschiedene westliche Blicke auf Indien sowie auch auf das Yoga und den Hinduismus gab. Es gibt diesen westlichen religionswissenschaftlichen Blick, der aus unserem Modernediskurs heraus sagt, eine höherwertige Religion ist eine rationale Religion und alles Irrationale einschließlich der irrationalen Körper abwehrt.
Es gibt auf der anderen Seite den westlichen Blick, den auch Bodybuilder oder eine Fitnesskultur haben, also die Olympischen Spiele zum Beispiel, die fast zur gleichen Zeit – oder ich glaube sogar im gleichen Jahr wie das Weltparlament der Religionen – stattgefunden haben*, die haben mehr einen Körperkult gepflegt. Auch dieser westliche körperorientierte Blick schaut nach Indien und findet auf einmal das körperbezogene Hatha-Yoga, das dort gerade wieder neu erfunden worden ist, total spannend und attraktiv und importiert das wiederum in den Westen.
Weber: Es wurden auch westliche Praktiken nach Indien importiert, zum Beispiel das muskuläre Christsein. Was verbirgt sich denn da dahinter?
Jahnel: Das muskuläre Christsein ist eine Strömung aus dem CVJM, also dem Christlichen Verein junger Menschen würde man heute sagen, die ein körperbetontes Christentum verkündet haben und eine Einheit von Körper, Geist und Seele. Sie finden zum Beispiel noch immer in dem CVJM-Büro drei rote Balken, die stehen für diese Einheit: Körper, Geist und Seele. Damit wird der Körper nicht verdammt, sondern die Stärkung des Körpers dient der Stärkung der Seele und damit auch der Stärkung der Gottesbeziehung. Dieses wurde über den CVJM, aber auch durch andere indische Kolonialdynamiken, nach Indien hineintransportiert.

Die Kerze kommt aus dem Westen

Ganz wichtig ist zum Beispiel die Schulung der indischen Soldaten, die natürlich eine Körperschulung war. Das wurde in Indien dann natürlich auch in die schulische Ausbildung und auch die militärische Ausbildung, in den indischen Staat, hineintransportiert und dort weiterentwickelt.
Das hat Traditionen aus dem Yoga mit aufgenommen, beziehungsweise einige der indischen Yoga-Praktizierenden oder Yoga-Gelehrten haben gesagt: Ach, da setzen wir uns jetzt mal drauf. Man kann in diesen Hatha-Yoga-Übungen, die eigentlich in der Form, wie wir sie heute haben, den Asanas, erst im 19. Jahrhundert erfunden worden sind, Übungen finden wie zum Beispiel die Kerze – vielleicht aus dem Sportunterricht bekannt –, die klassischerweise aus der westlichen Gymnastikszene herkommt.

Yoga zurückbringen geht nicht

Weber: Es gibt eine Kampagne, gestartet von einer hindu-amerikanischen Stiftung, die heißt "Bring Yoga Back", da wird gesagt, es sei im Grunde Diebstahl von hinduistischem geistigen Eigentum, was da gemacht wurde, diese ganzen Yoga-Techniken, -Theorien und -Ansätze zu exportieren und hier zu verwenden. Aber im Grunde ist das ad absurdum geführt, wenn Sie sagen, da sind auch Elemente aus dem Westen in das Yoga eingeflossen, oder?
Jahnel: Daran sieht man ganz deutlich, wie sehr Yoga ein Diskursfeld ist oder ein Feld politischer Interessensauseinandersetzungen. Diese Kampagne wurde gestartet von der Hindu American Foundation, das ist mehr oder weniger eine Organisation, die den Hinduismus und damit auch den hinduistischen Staat im Westen, in Amerika vertreten will und die natürlich als Gegenmacht – es geht hier wirklich um einen Machtkampf – sagt: Doch, es gibt ein hinduistisches Yoga, ein authentisches Yoga, das sich ganz stark auch mit hinduistischen Quellen und hinduistischer Spiritualität verbindet.
Teilnehmer einer öffentlichen Yogastunde auf dem Times Square in New York City.
Yoga im Westen: Zur Sommersonnenwende finden alljährlich öffentliche Yoga-Stunden auf dem Times Square in New York statt.© imago / Pacific Press Agency / Erik McGregor
Wogegen sich diese Hindu Foundation in besonderer Weise wehrt – also die erfinden natürlich auch ein authentisches Yoga –, ist das sogenannte Bikram-Yoga. Das ist ein Yoga, das wirklich nur auf sportlicher Leistung, auf Schwitzen und allem möglichen Fitnesskult beruht, also scheinbar nur westliche Werte. Ich sag das jetzt mal, nur scheinbar westliche Werte, denn die gibt es in Indien natürlich auch. Da sagt die Hindu Foundation: Nein, wir sind noch anders.

Wo es um Authentizität geht, geht es um Macht

Gleichzeitig verkauft der indische Staat übrigens Indien als den Staat des Yoga. Wenn man Yoga schon praktiziert, dann soll man doch bitte nach Indien kommen und Yoga dort praktizieren. Auf öffentlichen Straßen wird das gerne, auch bei großen Demonstrationen oder Festen praktiziert. Dieser Authentizitätsdiskurs ist ein Diskurs, in dem es ganz besonders beim Yoga eigentlich um Macht geht.
Weber: Gleichzeitig kann das eine ganz intime Praxis sein, die mit dem eigenen Körper zu tun hat, mit eigener Meditation und Erfahrung. Was mache ich nun als Yoga-Praktizierende, die vielleicht auch sagt: Ich bin durchaus in meinem christlichen Glauben verwurzelt, ich nehme sogar Elemente davon, wie einen Schalom-Gruß, in meine Yoga-Übungen hinein. Kann ich das tun, ohne mir bewusst zu sein, was da alles an Diskurs, an Kolonialgeschichte, an sonst was drinsteckt?
Jahnel: Ich hoffe, dass man das guttun kann. Auf jeden Fall. Es gibt inzwischen auch christliche Yoga-Gruppen, sowohl in Nordamerika als auch bei uns. Was ich tue, wenn ich Yoga praktiziere, ist, dass ich bestimmten Bedeutungszuweisungen an verschiedene Übungen bereits folge – wahrscheinlich nicht ganz individuell, sondern aus dem kulturellen Gedächtnis, dem Bedeutungsspeicher, schöpfend.

Der Yoga-Praxis eine eigene Bedeutung geben

Wenn ich eine Atemübung praktiziere, kann ich mir vorstellen, ich atme den Geist Gottes ein, die "Ruach". Ich kann mir aber auch vorstellen, dass ich das "Atman" vergrößere, das ist eine Frage der Interpretation. Aber in unserer heutigen Zeit – da fällt Yoga so unter das Spiritualitätsnarrativ – hängt es überhaupt in ganz besonderer Weise von der Subjektivierung unserer Praktiken ab. Welche Bedeutung ich also einer bestimmten Praxis gebe, davon hängt ab, wie ich diese Übung auch empfinde.
Ein indischer Lehrer korrigiert die Yogaübung eines Weißen.
Individuelle Übung: "Es gibt keine kulturelle Ownership über Yoga", sagt die Theologin Claudia Jahnel. Praktizierende sollten selbst herausfinden, was ihnen guttut.© imago / Design Pics / Chris Caldicott
Weber: Aber es gibt auch den Vorwurf, das sei kulturelle Aneignung, man würde etwas übernehmen und sich das selbst so zurechtmachen und es nicht in seinem ursprünglichen Kontext oder Wert stehen lassen.
Jahnel: Ja, da würde ich eben sagen, diesen ursprünglichen Kontext gibt es nicht. Das kann man geschichtlich belegen. Es wurde auch von verschiedenen Forschern belegt, dass Yoga immer ein Aushandlungsprodukt ist, sich immer verändern und auch immer unterschiedlich gedeutet werden wird.
Das Interessante ist, dass der Deutungsrahmen dann doch so breit ist, dass alle irgendwie ein bisschen Spiritualität oder zumindest Körperlichkeit damit verbinden; oder eine Körperlichkeit, bei der ich zur Ruhe kommen kann, zu mir selber finde oder ich in einen Widerstand zur gesellschaftlichen Anforderung komme.

Eine Atemübung für die Beziehung zum Heiligen Geist

Ich bin natürlich auch Wissenschaftlerin und schaue mir das aus dem wissenschaftlichen Spektrum her an, ich würde Yoga-Praktizierenden dazu raten, sich auch immer wieder mal die Hintergründe des Yoga anzuschauen, ohne es zu verteufeln und zu sagen, ich nehme mir da durchaus auch raus, was mir guttut als Yoga-Praktizierende.
Oder wenn ich als, sagen wir mal, Pfarrerin sage, da gibt es eine Atemübung, die tut meinen Gemeindemitgliedern an einem spirituellen Abend gut, dann kann ich die auch benutzen und kann mich trotzdem natürlich auch auf den Heiligen Geist einpendeln, sag ich mal. Ich nenne es nicht kulturelle Aneignung, weil ich sagen würde: Es gibt keine kulturelle Ownership über Yoga.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*Der erste Olympische Kongress fand 1894 in Paris statt. Er gilt als Geburtsstunde der Olympischen Spiele der Neuzeit.

Weiterführende Literatur

Claudia Jahnel: "Zwischen spiritueller Versenkung und muskulärem Christstein. Yoga als Produkt interkultureller Aushandlungen"
in: Andreas Hahn (Hg.): "Yoga und christlicher Glaube. Zwischen körpersensiblen Entdeckungen und synkretistischer Vereinnahmung"Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen - EZW-Texte 270
Berlin 2020, 68 Seiten

Mehr zum Thema